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Samstag, 20. November 2010

08 Neue Wege braucht das Land…

Aus der Serie „Artikel von gestern für morgen“.
Beitrag aus dem Heft „in Bewegung…“ – herausgegeben von der Jungen Wirtschaftskammer Glarus anlässlich des 38. Nationalkongresses – Oktober 1997 - ©Kaspar Rhyner, seinerzeit Regierungsrat und Ständerat des Kanton Glarus

Altes Plakat im Besitz der gl-pro
Aus dem Blickwinkel des „Abseits“

Schon vor dem Beginn der heutigen Zeitrechnung soll ein römischer Kaiser verkündet haben, dass ein Land, wenn es vorankommen will, seine Jugend gut ausbilden und die Verkehrswege ausbauen und gestalten muss. Heute, an der Schwelle zum 3. Jahrtausend, hat diese Aussage Gültigkeit und Bedeutung wie eh und je. Wenn wir in der heutigen Zeit bestehen wollen, kommt der Ausbildung unserer Jugend die allergrösste Bedeutung zu. Dass der ständigen Weiterbildung in der heutigen Zeit wie in Zukunft bei den ständig wechselnden Verhältnissen und der rasanten technischen Entwicklung ein ebenso grosser Stellenwert wie der eigentlichen Grund- und Schulausbildung zukommt, ist eine allgemein anerkannte Tatsache. Nur wer sich anstrengt, mit der laufenden Entwicklung Schritt zu halten und "am Ball zu bleiben", wird auch an diesen Errungenschaften teilhaben können. Dies gilt so wohl für jeden einzelnen als auch für unser Staatswesen und seine Institutionen. Um unsere Zukunft im positiven Sinne zu gestalten, werden wir uns noch intensiver mit unserer Jugend zu befassen und auseinanderzusetzen haben.

Auch die zweite These, dass ein Land seine Verkehrswege ausbauen muss, braucht aus heutiger Sicht nicht revidiert zu werden. Selbstverständlich muss man sich dabei vergegenwärtigen, dass sich die Bedürfnisse und die Dimensionen grundlegend geändert haben. Dass in der Gegenwart und in der Zukunft auch andere Infrastrukturen (Energie, Kommunikation, Bauten der sozialen Wohlfahrt und für das Gesundheitswesen, Umweltschutzanlagen) eine gleichrangige Bedeutung wie die Verkehrswege erlangt haben, ist offensichtlich.

Auch wenn man, wie ich, zuhinderst in einem Bergtal aufgewachsen ist und dort wohnt, wird es einem je länger, je mehr bewusst, dass es heute - dank den Errungenschaften der modernen Technik - auch für eine solche Gegend in vielen Bereichen kein "Abseits" mehr gibt.

Wenn die Herausforderungen für alle gewachsen sind, um mit den Bedürfnissen der Wirtschaft Schritt zu halten, so gilt dies in noch stärkerem Masse für die Bevölkerung, die nicht in den (oder in der Nähe der) Wirtschaftszentren, sondern in Randregionen - oder anders ausgedrückt "abseits" - wohnt. Über die Zukunft dieser Regionen habe ich mir schon oft Gedanken und Sorgen gemacht. Während meiner ganzen politischen Laufbahn habe ich mich auf allen Ebenen für die Interessen und die Entwicklung der Randregionen eingesetzt, mit dem Ziel, deren Standortnachteile möglichst in Grenzen zu halten.

Bald vierzig Jahre sind vergangen, seit durch die gute Zusammenarbeit und die konstruktiven Verhandlungen mit der Eidgenossenschaft die Basis für den Waffenplatz Wichlen in Elm gelegt werden konnte. Die damit geschaffene Infrastruktur bildete die eigentliche Grundlage, dass ein abgelegenes, von wirtschaftlichen Nöten geplagtes Bergtal einen erfreulichen Aufschwung verzeichnen und der Entvölkerung Einhalt geboten werden konnte. Wir müssen uns der Tatsache bewusst sein, dass wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen dürfen und dass auch hier Stillstand eben Rückschritt bedeutet. Wir haben heute den Beweis, zu welchem Ergebnis das vor wenigen Jahren von gewissen Kreisen gepriesene und herbeigewünschte Nullwachstum führt.

So gilt es auch heute wie damals die Zeichen der Zeit zu erkennen, die Herausforderung anzunehmen, zu reagieren und zu handeln. Dabei ist auf die besonderen Gegebenheiten der jeweiligen Region Rücksicht zu nehmen. Oft erweist es sich dabei als hilfreich, den Blick vorerst nach rückwärts zu richten, um dann aus den darausgezogenen Erkenntnissen und Lehren die richtigen Entscheide für die Zukunft zu treffen.

Ein Siedlungsraum kann aktiviert werden, in dem jahrhundertalte Bausubstanz restauriert und damit der Nachwelt erhalten wird. Es geht hier keineswegs darum, einen Museumscharakter im Sinne von "Ballenberg" zu schaffen, womit sich diese Anmerkung keinesfalls gegen diese wertvolle Institution richtet. Viel mehr soll mit dieser Massnahme den Dörfern und Siedlungen die ursprüngliche Identität möglichst erhalten oder zurückgegeben werden. Die Erfahrungen zeigen, dass damit auch Mittelpunkte geschaffen werden können, welche der ansässigen Bevölkerung und insbesondere der jungen Generation Anreiz bietet, den Wohnsitz in der Region beizubehalten.

Wir müssen uns auf unsere Stärken besinnen. Wir verfügen noch über Werte, die anderswo bereits verloren gegangen oder zerstört worden sind. Allein schon unsere "heile Welt", die urtümliche Natur und die intakte Umwelt, bieten die Grundlage für eine gesunde wirtschaftliche Existenz. Diese Werte gilt es zu erhalten und zu schützen und zwar nicht durch "Fremdbestimmung" sondern durch eigene Initiativen und Aktivitäten. Um diese Ziele zu erreichen, braucht es Motivation, eine gehörige Portion Selbstbewusstsein und Zukunftsglauben.

Die Erhaltung und das Gedeihen der Randregionen sind von nationalem Interesse. Die notwendigen Massnahmen können nicht aus eigener Kraft bewältigt werden. Es bedarf dazu auch eines nationalen Ausgleichs und der entsprechenden Solidarität. Ich denke dabei in erster Linie an unsere Berglandwirtschaft. Wenn wir nicht bereit sind, unseren Bergbauern die erfolgreiche partnerschaftliche Unterstützung zu gewähren, werden alle Bemühungen und Massnahmen in den Randregionen sich als nutzlos erweisen. Die Resignation oder gar Aufgabe der Berglandwirtschaft führt zu einer Verödung und Verarmung unserer Landschaft - und in der Konsequenz zu einem Identitätsverlust unseres Landes. Die Folgen wären verheerend.

Ein wohl unzeitgemässer und unkonventioneller Gedanke aus dem "Abseits" wäre vielleicht doch einige Überlegungen wert: Weshalb müssen denn die jungen Leute, die auf einem Bauernhof aufgewachsen und dort "gross" geworden sind, lernen, wie man alles noch schneller machen und noch billiger produzieren kann? Preislich kann die Berglandwirtschaft mit dem "Ausland" ja ohnehin nicht mithalten. Die Umstellung auf die naturnahe Produktion scheint deshalb bereits ein erster Schritt in diese Richtung.

In unserem eigenen Interesse müssen wir mit den entsprechenden Massnahmen den Bergbauern das Gefühl und das Bewusstsein vermitteln, dass ihre schwere Arbeit wichtig und notwendig ist. Sowohl die heutige als auch künftige Generationen unserer Landwirte erhalten damit eine Perspektive, die es ihnen ermöglicht, ihren Betrieb weiterhin zu bewirtschaften und darauf "ihr Brot" zu verdienen - und damit unsere Landschaft und Natur zu bewahren. Die Landwirtschaft - und dies gilt in besonderem Masse für die Berggebiete - ist das wichtigste Bindeglied zwischen Mensch und Natur.

Ohne eine intakte Landwirtschaft bleiben auch alle Anstrengungen im Tourismus - dem wohl wichtigsten Eckpfeiler der Berggebiete - Stückwerk und Illusion. Ohne einem uneingeschänkten Massentourismus das Wort zu reden, müssen wir uns davor hüten, unter dem Schlagwort "sanfter Tourismus" jede Entwicklung und Einrichtung touristischer Infrastruktur zu unterbinden und zu verhindern. Die Erfahrungen in jüngster Zeit müssen uns lehren, dass Nullwachstum und Stillstand auch im Tourismus kaum zu positiven Ergebnissen führen.

Die neuen Wege, die wir brauchen, bestehen zu einem nicht unwesentlichen Teil darin, dass wir uns wieder auf unsere Stärken besinnen. Um die anstehenden Aufgaben und schwierigen Probleme unseres Landes zu lösen, müssen wir in Politik und Wirtschaft wieder mehr Partnerschaft, Solidarität und gegenseitiges Verständnis praktizieren. Konfrontation und stures Beharren auf Positionen wird sich im Endeffekt zum Nachteil aller auswirken, wobei die "Abseitswohnenden" in den Rand- und Bergregionen am meisten darunter zu leiden hätten.

© Kaspar Rhyner - seinerzeit Regierungsrat und Ständerat